Rede von Dr. h.c. Paul Spiegel
dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland am 10.
April 2005 im Weimarer Nationaltheater anlässlich der zentralen
Gedenkveranstaltung aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung der
nationalsozialistischen Konzentrationslager
english version
Herr
Bundestagspräsident, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesratspräsident, liebe Überlebende
des Konzentrationslagers Buchenwald, Exzellenzen, sehr geehrte Damen und Herren,
aus streng wissenschaftlicher Sicht zählt das Konzentrationslager Buchenwald
nicht zur Kategorie der Vernichtungslager. Unter Berücksichtigung der überlieferten
Daten und Fakten mag dies zutreffend sein. Mit dem Erleben der Menschen, die die
Hölle von Buchenwald durchleiden mussten, haben solche methodischen
Einordnungen jedoch rein gar nichts zu tun. Die brutale Ausbeutung der
Inhaftierten, das systematische, qualvolle Zugrunderichten von Menschen bis hin
zu deren sinnloser Ermordung stellte eine Form der Vernichtung dar, die keiner
Gaskammern bedurfte. Auch wer Buchenwald überlebte, war nach dem Erlebnis des
Lagers in seinem Innersten, in seinem Menschsein zutiefst verletzt und seelisch
vernichtet.
Auch das Gelände, auf dem sich einst das Konzentrationslager Buchenwald befand,
hat mit der damaligen Wirklichkeit, dem damaligen Erleben der Kinder, Frauen und
Männer nur im topographischen Sinne etwas gemein.
Was wir hier sehen, erscheint in der Wahrnehmung von Überlebenden bestenfalls
als Kulisse des Lagers von einst. „Sauber und aufgeräumt, (…) fast
adrett“ empfand Ernst Cramer, ein Überlebender von Buchenwald, das
Lagergelände, als er es 1990 erstmalig wieder besichtigte. „Allerdings
brauchte ich nur auf dem Appellplatz die Augen zu schließen und alles war
wieder präsent“, so schilderte er seine Empfindungen kürzlich im Thüringer
Landtag. „Ich roch den Dreck und den Angstschweiß der Männer um mich. Ich
spürte den Nieselregen und die Schläge, die mir ein SS-Mann mit einer
Holzlatte auf den kahl geschorenen Kopf gab. Und ich hörte sowohl das Stöhnen
um mich herum als auch die schnarrenden, höhnischen Befehle der
Wachmannschaften, alle in schwarzer Uniform.“
Sich einer so hautnahen Konfrontation mit dem Erlebten auszusetzen wie Ernst
Cramer war für viele andere Überlebende von Buchenwald undenkbar. So auch für
meinen Vater. Eine Besichtigung des ehemaligen Lagergeländes kam für ihn
zeitlebens nicht mehr infrage. Zu groß war die Angst, ja Panik, mühsam verdrängte
Erinnerungen neu zu beleben.
Das Konzentrationslager Buchenwald gibt es nicht mehr. Die Erde dieses Geländes
wird jedoch für alle Zeit getränkt sein mit den Tränen der Verzweifelten und
dem Blut der hier Ermordeten.
Schon lange vor der Befreiung des Lagers war dieses Gelände ein Ort der Trauer
und die letzte, verhasste Ruhestätte namenloser Opfer. Heute ist es ein Ort,
der uns hilft, eine schwache Vorstellung des Unfassbaren in unseren Köpfen
entstehen zu lassen. Nirgendwo ist eine so wirklichkeitsnahe Auseinandersetzung
mit dem Geschehenen möglich wie an den einstigen Orten des Terrors und der
Vernichtung. In Buchenwald gilt unser Dank dem jahrzehntelangen Engagement des
Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos, der engagierten Arbeit
der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald, aber auch dem Land Thüringen und der
Bundesregierung für die geleistete Unterstützung. Alle, die in den vergangenen
60 Jahren bemüht waren, die Anlage des ehemaligen Konzentrationslagers für die
Nachgeborenen zu bewahren, taten dies im wesentlichen aus einer Überzeugung
heraus: Wer diesen Ort aus dem ehrlichen Bemühen aufsucht, ein Empfinden für
das Schicksal der hier Gequälten, Gedemütigten und Ermordeten zu entwickeln,
der wird sich im entscheidenden Moment hoffentlich auf den Warnruf „Nie
wieder!“ besinnen und nicht zu denen zählen, die sich abwenden oder
wegsehen. Diese Hoffnung ist sicher berechtigt und unterstreicht die
herausragende Bedeutung der Gedenkstätten – gerade auch in
gesellschaftspolitischer Hinsicht. Eine Bedeutung übrigens, die kein Mahnmal je
erlangen kann.
Seit dem Ein- und Wiedereinzug rechtsextremer Parteien in die Landtage von
Sachsen und Brandenburg vergeht keine Woche, in denen es den Rechtsextremen
nicht gelingt, sich in das Zentrum der politischen Diskussion in Deutschland zu
rücken. Inhaltlich bieten die Äußerungen aus dem rechten Lager nichts Neues:
Offener Rassismus und Antisemitismus werden ergänzt durch das Anheizen der
Parteienverdrossenheit. Geschichtsfälschungen, sprich die Verharmlosung der
NS-Zeit und die Relativierung der Kriegsschuld, die Mobilisierung von
Vorurteilen und völkische Parolen sind ebenfalls fester Bestandteil der Reden
und Pamphlete. All das ist zutiefst abstoßend und verwerflich – aber bekannt.
Neu dagegen sind das Auftreten und die Anstrengungen der Wortführer, sich bürgerlich
angepasst und gesellschaftlich etabliert darzustellen. Neu und hochgradig gefährlich
ist der Vorstoß der Rechtsextremen in die Mitte der Gesellschaft. Ihr Ziel, zum
normalen, selbstverständlichen Bestandteil der politischen und
gesellschaftlichen Kultur in Deutschland zu werden, muss uns alarmieren. Dies
gilt auch für die nicht zu unterschätzenden Bestrebungen, die weit verbreitete
Angst vor sozialem Abstieg zu nutzen, um die Anhängerschaft zu verbreitern und
das rechte Lager bis zu den Bundestagswahlen 2006 zu einen.
Eng damit verknüpft ist eine weitere, nicht minder besorgniserregende
Entwicklung: Die stetig zunehmende Verrohung im Denken von Kindern und
Jugendlichen, begleitet von steigender Gewaltbereitschaft. Diese Tendenz
spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass die rechte Szene kein Problem
hat, Nachwuchs zu rekrutieren. Allein in Brandenburg liegt der Anteil der Ersttäter
bei den Gewaltdelikten bei über 80 Prozent. Rechtsextremen Wortführern gelingt
es also unvermindert, Jugendliche, ja oft schon Minderjährige, an sich zu
binden. Diese Tatsache muss uns weitaus mehr beunruhigen als die skandalösen
Reden und Auftritte von NPD-Abgeordneten. Denn viele dieser Jugendlichen sind längst
nicht mehr nur gefährdet, sondern den gängigen, verfügbaren Formen pädagogischer
Einflussnahme nicht mehr zugänglich. Vor unseren Augen wachsen Überzeugungstäter
heran.
So berechtigt der besorgte Blick auf die nachwachsende Generation ist, so
wichtig wäre es, gleichzeitig auch die Erwachsenen stärker ins Blickfeld zu rücken.
Denn seien wir ehrlich: Welcher Erwachsene verfügt über ausreichendes Wissen,
um mit seinen Kindern über die Gewaltverbrechen der Vorfahren während des
Zweiten Weltkriegs zu sprechen? Wie hoch ist die Bereitschaft, die Lehren aus
der Vergangenheit als Mahnung an die Kinder weiterzugeben? Ich wage die These,
dass eine der PISA-Studie vergleichbare Untersuchung mit Eltern zum Themenkreis
NS-Vergangenheit und Holocaust deprimierende Ergebnisse zur Folge hätte. Die
Bereitschaft, Menschen anderer Hautfarbe, anderen Glaubens, anderer Nationalität
oder homosexueller Orientierung zu verachten und als Sündenböcke zu
missbrauchen, wird Kindern und Jugendlichen von nicht wenigen Erwachsenen und
nicht selten von der eigenen Familie vorgelebt. Schulen und Jugendeinrichtungen
können nicht ausgleichen, was in den prägenden Kindheitsjahren im Elternhaus
versäumt wurde.
Die Tatsache, dass der Rechtsradikalismus in den ostdeutschen ein größeres
Problem darstellt als in den westlichen Bundesländern, ist sicher auch die
dramatische Langzeitwirkung eines über Jahrzehnte hinweg staatlich verordneten
Antifaschismus zu DDR-Zeiten. Solche Überlegungen sind jedoch nur ein Erklärungsmuster
von vielen. Fest steht dagegen, dass weder staatlich gelenktes Gedenken, noch lückenhafte
Schulbücher oder unzureichend ausgebildete Lehrer eine Rechtfertigung für
Rassismus und rechte Gewalt sein dürfen. Kinder, denen ein Begriff von Werten
wie Nächstenliebe, Toleranz und Mitmenschlichkeit mitgegeben wurde, werden
nicht zu rechten Gewalttätern – egal in welchem politischen System sie
aufgewachsen sind.
Mich treibt an diesem 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager die
Sorge um, dass der „Staffelstab der Erinnerung“ mit dem endgültigen
Verstummen der Zeitzeugen nicht mehr weitergereicht werden wird. Nur die
Weitergabe der Erinnerung an die nachfolgenden Generationen garantiert jedoch,
dass das Leiden aller ermordeten und überlebenden Opfer der Kriegskatastrophe
nicht gänzlich umsonst war. Diese Einsicht muss uns Ansporn sein, die
Erinnerung im Sinne der Überlebenden zu bewahren, indem die Nachgeborenen der
Opfer und Täter stellvertretend die Zeugenschaft übernehmen. Der
Buchenwald-Report, der Berichte von Überlebenden beinhaltet, die unmittelbar
nach der Befreiung ihre traumatischen Erlebnisse schilderten, zählt zu den
wertvollsten Zeitzeugen-Berichten, über die wir verfügen. Wer diese oder
andere Schilderungen von Überlebenden des Zweiten Weltkriegs liest, wird
automatisch selbst zum Zeugen des Geschehenen. Aus Demut und Trauer gegenüber
dem Schicksal der Toten und in Dankbarkeit gegenüber der Kraftanstrengung der
Überlebenden, uns von ihren Erlebnissen zu berichten, appelliere ich an alle
wohlmeinenden Menschen, die Verantwortung als gleichsam stellvertretende Zeugen
anzunehmen. Geben Sie weiter, was Sie über Verfolgung, Krieg und den staatlich
angeordneten, millionenfachen Mord an unschuldigen Menschen gelesen haben! Legen
Sie Zeugnis von dem ab, was ihnen von Zeitzeugen direkt oder über die Medien
erzählt wurde! Versuchen Sie, jüngeren Menschen zu beschreiben, was Sie beim
Besuch eines ehemaligen Konzentrationslagers empfunden haben! Prägen Sie sich
den Namen eines einzigen Opfers ein und übernehmen Sie damit eine Art ideeller
Patenschaft des Gedenkens. Übernehmen Sie den „Staffelstab der
Erinnerung“!