Spiegel Online 11.4.2005
GEDENKFEIER IN BUCHENWALD
Das Erlebnis des Todes
Von Philipp Wittrock, Weimar
Vor 60 Jahren
wurde das Konzentrationslager Buchenwald von der US-Armee befreit. Mehr
als 500 ehemalige Häftlinge aus ganz Europa kamen heute zur Gedenkfeier
auf den Ettersberg bei Weimar, manche wohl zum letzten Mal. Bald werde es
keine unmittelbare Erinnerung mehr geben, mahnte der Schriftsteller Jorge
Semprun.
Weimar - Wie lässt sich erinnern, was man nicht erlebt hat? Was einem niemand erzählen kann, der dabei war? Etwas, dass sich vorzustellen, zu begreifen fast unmöglich ist. Vor 60 Jahren wurde das Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar befreit, der Stadt von Goethe und Schiller, wo Kultur und Barbarei so eng beieinander lagen. Und zum wahrscheinlich letzten Mal kamen ehemalige Häftlinge aus ganz Europa, mehr als 500, an den Ort zurück, der ihr Schicksal, ein von Menschenhand geplantes und auferlegtes Schicksal ist. Es war der letzte "runde" Gedenktag, an dem die, das KZ Buchenwald erleben mussten, teilnehmen konnten.
In zehn Jahren werden die meisten Zeitzeugen gestorben sein. "Es wird keine unmittelbare Erinnerung mehr geben, kein direktes Zeugnis, kein lebendiges Gedächtnis: Das Erlebnis jenes Todes wird zu Ende gegangen sein", sagte der spanische Schriftsteller Jorge Semprún, ehemaliger Häftling Nummer 44904, bei der Zentralen Gedenkfeier im Deutschen Nationaltheater von Weimar. Niemand werde mehr in seinem sensitiven Gedächtnis den Geruch aus den Verbennungsöfen des Krematoriums haben, den Geruch, "der ohne Zweifel das ganz Spezifische, das Einzigartige der Erinnerung an die Vernichtungslager ausmacht."
Welche Emotionen mit der Erinnerung an die Lager verbunden
sind, machten die vereinzelten lauten Proteste anderer ehemaliger
Häftlinge deutlich. "Es gibt die Kinder!" riefen sie Semprún zu. Der
81-Jährige hatte die Kinder nicht vergessen. In Buchenwald gab es kaum
Kinder. Buchenwald war vor allem das Lager der politischen
Widerstandskämpfer. Aber es gab Kinder in den Lagern, die zur Vernichtung
der Juden in ganz Europa bestimmt waren, in Auschwitz oder
Birkenau.
"Das jüdische Gedächtnis an die Lager wird langlebiger,
wird sehr viel dauerhafter sein", stellte Semprún fest. Gerade deswegen
falle auf das jüdische Gedächtnis der Zukunft eine große Verantwortung. Es
werde zum Bewahrer und Verwalter der Erfahrungen aller, nicht nur der
jüdischen. Aber auch Paul Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden
rief die Nachfolge-Generationen schon jetzt dazu auf, den "Staffelstab der
Erinnerung" zu übernehmen. "Prägen Sie sich den Namen eines einzigen
Opfers ein und übernehmen Sie damit eine Art ideeller Patenschaft des
Gedenkens."
Als freier Mensch auf dem
Ettersberg
Später, auf dem Ettersberg, einige Kilometer
außerhalb Weimars, auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers
Buchenwald, wird die Idee dieser Patenschaft umgesetzt. Zahlreiche
jugendliche Betreuer begleiteten die ehemaligen Häftlinge, viele von ihnen
mit den unterschiedlichen KZ-Winkeln und ihrer Häftlingsnummer am Revers,
durch das schmiedeeiserne Tor mit dem zynischen "Jedem das Seine"-Auspruch
auf den einstigen Appellplatz. Dorthin, wo die Deportierten seinerzeit
jeden Morgen und Abend zum Durchzählen antreten mussten. Einige wagten
diesen Schritt zum ersten Mal. "Es ist ein gutes Gefühl, als freier Mensch
hier zu stehen", sagte ein 86-Jähriger, nachdem er einem Veteranen der 3.
US-Armee, die am 11. April 1945 Buchenwald erreichte und befreite, die
Hand geschüttelt hatte.
Mythos der Selbstbefreiung von der DDR
gepflegt
"Kameraden, wir haben das Lager in unserer Hand." Die
Erlösung schallte damals am frühen Nachmittag durch die Lautsprecher, über
die sonst die SS ihre Befehle über den Ettersberg brüllte. Während die
ersten Panzer der Amerikaner unter General George Smith Patton auf den
Appellplatz rollten, besetzten Häftlinge des Lagerwiderstandes den
Hauptturm, von dem aus das ganze Lager zu überblicken war. 21.000
Häftlinge waren frei.
Wenige Tage zuvor wurden im Stammlager noch
fast 50.000 festgehalten. Angesichts der nahenden alliierten Truppen
begann die SS jedoch, das Lager zu räumen. Die Kommandantur schickte
28.000 Menschen auf den Weg in die Konzentrationslager Dachau und
Flossenbürg oder das Ghetto Theresienstadt, mit dem Zug oder zu Fuß.
Niemand weiß, wie viele genau auf den Todesmärschen an Hunger und
Erschöpfung starben oder erschossen wurden. Auf jeden Fall mehr als
10.000. Zahlen, eigentlich zu unerträglich, zu unvorstellbar, um sie
statistisch festzuhalten. Insgesamt rund eine Viertelmillion Menschen aus
ganz Europa waren von Juli 1937 bis zu den Tagen im April 1945 in
Buchenwald inhaftiert. Etwa 56.000 überlebten das Lager nicht.
Und
nun, 60 Jahre danach, die Erinnerung. Eine Erinnerung, die ein wenig
freier geworden zu sein scheint. Vor zehn Jahren, am 50. Jahrestag der
Befreiung, da war es noch ein Erinnerungskampf, der da, deutlich sicht-
und hörbar, bei der offiziellen Gedenkveranstaltung ausgetragen wurde.
Befreiung oder Selbstbefreiung? Über Jahrzehnte hatte die DDR-Führung die
Rolle des kommunistischen Widerstands innerhalb des Lagers zum ihrem
antifaschistischen Gründungsmythos überhöht, die Legende von der
Selbstbefreiung gepflegt.
Es gab die interne Widerstandsbewegung,
das illegale Lagerkomitee, das die SS-Befehlsstrukturen zunehmend
unterwanderte. Es gab die 300 "roten Kapos", die kommunistische
Häftlingsprominenz, die in der Lagerselbstverwaltung ihre Rolle spielte,
die zwar das Lagerleben berechenbarer machte, aber auch von ihrer Position
profitierte, zum Nachteil andrer Internierter. Einen Aufstand gab es
nicht. Als die amerikanischen Panzer schon zu hören waren, an jenem 11.
April 1945, suchte die SS das Weite. Die Wachsoldaten und die Posten auf
den Türmen waren in die Wälder geflohen, da konnten die mittlerweile
bewaffneten Mitglieder des Lagerwiderstandes die Kontrolle
übernehmen.
Im August 1945 wurde das Lager an die sowjetische
Militäradministration übergeben, aus dem Konzentrationslager Buchenwald
wurde das "Speziallager 2", ein Internierungslager für Nazi- und
Kriegsverbrecher. Bis zu seiner Auflösung wurden dort fast 30.000 Menschen
interniert, mehr als 7.000 Menschen kamen ums Leben.
Das
Geschichtsbild hat seine nötigen Korrekturen erfahren. Auch wenn sie nicht
von jedermann akzeptiert werden: Man gedenkt der Befreiung des Lagers in
zwei Lagern, mittlerweile allerdings ohne sich gegenseitig der
historischen Fehlinterpretation zu bezichtigen, zumindest nicht lautstark.
Auf der Gedenkstätte wehten auch heute die roten Fahnen der Kommunisten,
während am Gedenkstein für alle Häftlinge des Konzentrationslagers Kränze
und Blumen niedergelegt wurden. Jene, die im 11. April 1945, immer noch
nur den Tag der Selbstbefreiung sehen, versammelten sich später an der
Mitte der fünfziger Jahre errichteten "Nationalen Mahn- und Gedenkstätte"
an der Südseite des Ettersbergs, dort, wo der "scheußliche Glockenturm"
steht, wie ihn Jorge Semprún in seinem Roman "Was für ein schöner Sonntag"
nannte, wo Fritz Cremers überdimensionierte Figurenplastik den
kommunistischen Heldenmut monumentalisiert - und kommunistische
Dissidenten denunziert.
Einige Stunden zuvor hatte Bundeskanzler
Gerhard Schröder bei der Feierstunde im Nationaltheater den Spagat gewagt
und eine "Befreiung von außen" und, das dürfe nicht vergessen werden, eine
"zugleich eine Befreiung von innen" gewürdigt. Jorge Semprún hatte schon
vor zehn Jahren, beim Gedenken am 50. Jahrestag der Befreiung,
konstatiert, dass man sich nicht mit der Rolle als Opfer oder Held
zufrieden geben dürfe. "Man weiß ja", hatte der ehemalige spanische
Kulturminister gesagt, "dass beide den kritischen Blick vermeiden, die
selbstkritische Gewissensprüfung ablehnen."
Ziel müsse immer sein,
das historische Gedächtnis an die junge Generation zu übermitteln. Auf dem
Appellplatz übergab jetzt das Internationale Buchenwald-Komitee symbolisch
das Vermächtnis der Überlebenden von Buchenwald an die Nachgeborenen.
Steffen Tromsdorff, Enkel des einstigen Häftlings Klaus Tromsdorff,
bekräftigte den Schwur, stets für die Freiheit der Menschen einzutreten,
jenen Schwur, den die Buchenwald-Deportierten wenige Tage nach ihrer
Befreiung ablegten.