Rede von Jorge Semprun
am 10. April 2005 im Weimarer Nationaltheater anlässlich der zentralen Gedenkveranstaltung aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager

Meine Damen und Herren, liebe Freunde,

wir wissen es alle, es besteht kein Zweifel daran, aber die Nachricht ist dennoch nicht für alle von uns gleich wichtig. Für einige von uns allerdings hat sie vitale Bedeutung, denn die Nachricht bezieht sich auf unseren Tod.

Wir wissen es alle, es stimmt, dass diese 60. Wiederkehr des Tages, an dem die nationalsozialistischen Konzentrationslager aufgedeckt und befreit wurden, dass diese Gedenkfeier die letzte sein wird, an der Zeugen jener Erfahrung teilnehmen werden.

In zehn Jahren, im Jahr 2015 – denn diese Gedenkfeiern haben ja seit 1945 verständlicherweise von Jahrzehnt zu Jahrzehnt an Feierlichkeit und Bedeutung gewonnen – 2015 also wird es keine Zeugen mehr geben: Wir werden kein Zeugnis mehr geben können von den Erfahrungen in den Nazi-Lagern.

Es wird keine unmittelbare Erinnerung mehr geben, kein direktes Zeugnis, kein lebendiges Gedächtnis: Das Erlebnis jenes Todes wird zu Ende gegangen sein.

Niemand wird mehr sagen können: „Ja, so war es, ich war dabei." Und niemand wird unter irgendein Bild der Erinnerung den Satz schreiben können, den Goya unter ein Blatt seiner "Schrecken des Krieges" gesetzt hat: „Ich habe es gesehen."

Niemand wird mehr in seinem sensitiven Gedächtnis den Geruch aus den Verbrennungsöfen der Krematorien haben, diesen Geruch, der die Erinnerung imprägniert und vielleicht anreizt, diesen Geruch, der ohne Zweifel das ganz Spezifische, das Einzigartige der Erinnerung an die Vernichtungslager ausmacht.

Niemand wird den Bewohnern von New York erklären können, dass der ekelhafte Geruch, der sich nach den Attentaten vom 11. September von den Zwillingstürmen über das ganze Stadtviertel verbreitete, genau jener der Krematoriumsöfen der Nazis war. Der Geruch des totalitären Krieges, den das "alte Europa" bereits kannte, und dem es die bewundernswerte Aufgabe des Aufbaus einer supranationalen Gemeinschaft unabhängiger Staaten entgegenstellt und sich dafür bereit erklärt, auf einen beträchtlichen Teil der nationalen Souveränität zu verzichten – sie abzugeben für eine geteilte, gemeinschaftliche Souveränität.

In zehn Jahren, beim nächsten feierlichen Gedenken an die Aufdeckung und Befreiung der Nazi-Konzentrationslager, wird unser Gedächtnis der Überlebenden nicht mehr existieren, denn es wird keine Überlebenden mehr geben, die eine Weitervermittlung der eigenen Erfahrungen leisten könnten und die hinausginge über die notwendige, aber unzureichende Arbeit der Historiker und Soziologen. Es wird nur noch Romanciers geben.

Nur die Schriftsteller können, wenn sie frei beschließen, sich jene Erinnerungen anzueignen, sich also das Unvorstellbare vorzustellen, wenn sie also versuchen, die unglaubliche historische Wahrheit literarisch wahrscheinlich zu machen, nur Schriftsteller könnten die lebendige und vitale Erinnerung wieder zum Leben erwecken – das von uns Erlebte, die wir gestorben sein werden.

Das sollte uns nicht weiter erstaunen oder beunruhigen: so war es schon immer, so wird es immer sein. Die Zeugen verstummen, die Literatur, die Zeugnis gibt, verschwindet. Der einzige Zweifel, die einzige Frage, auf die wir noch keine Antwort gefunden haben, ist folgende: Wird es eine Literatur der Vernichtungslager geben, die über die Zeugnis- oder Erinnerungsliteratur hinausgeht?

Während es also in zehn Jahren keinen Überlebenden von Buchenwald, oder von Dachau, oder von Mauthausen mehr geben wird, also aus jenen Konzentrationslagern, die dazu bestimmt waren, die politischen Widerstandskräfte aus ganz Europa, die den Nazismus bekämpft hatten, zu inhaftieren und zu zerstören, ist es zum anderen gut möglich, sogar wahrscheinlich, dass es Überlebende von Auschwitz oder Birkenau geben wird, den Lagern in Polen, die zur Vernichtung der Juden ganz Europas dienten.

Das jüdische Gedächtnis an die Lager wird langlebiger, wird sehr viel dauerhafter sein. Dies aus dem einfachen Grund: Weil es deportierte jüdische Kinder gab, Tausende und Zehntausende, während es keine deportierten Kinder aus dem politischen Widerstand gab.

Die Erinnerung an die Nazilager, die am längsten überleben wird, ist also die jüdische Erinnerung. Sie bleibt nicht nur auf die Erfahrung in Auschwitz oder Birkenau beschränkt. Seit 1945 wurden nämlich wegen des Vormarsches der sowjetischen Armee Tausende und Abertausende deportierter Juden in die Lager Mitteldeutschlands evakuiert.

So wird vermutlich in der Erinnerung der jüdischen Kinder und Jugendlichen, die wahrscheinlich auch in zehn Jahren, 2015, noch leben werden, ein globales Bild von der Vernichtung, eine universelle Reflexion fortbestehen. Das ist möglich und auch wünschenswert: In diesem Sinne fällt eine große Verantwortung auf das jüdische Gedächtnis der Zukunft.

Denn es wird zum Bewahrer und Verwalter aller Erfahrungen der Vernichtung werden: als erstes natürlich der eigenen jüdischen Erfahrung. Dann aber auch all der anderen Erfahrungen: die der Sinti und Roma, die vernichtet wurden wie die Juden, weil sie waren, was sie waren; dann die der politischen Gegner des Hitlerregimes, deutsche Kommunisten, Sozial- und Christdemokraten; schließlich die der Widerstandskämpfer aus den antifaschistischen Guerillabewegungen in ganz Europa.

Alle diese europäischen Erinnerungen an den Widerstand und an das Leiden werden in zehn Jahren als letzten Schutz und Zufluchtstätte nur noch die jüdische Erinnerung haben, das älteste Gedächtnis an jene Erfahrung, denn es war das jüngste Erleben vom Tod.

Dem Beispiel folgend, das Deutschland seit Jahren im Bundestag gibt, hat der Zyklus der Gedenkveranstaltungen zum 60. Jahrestag diesmal am 27. Januar in Auschwitz begonnen.

So hat man völlig zu Recht die furchteinflößende Einzigartigkeit des Genozids am jüdischen Volk hervorgehoben im Gesamtrahmen der Nazi-Politik gegenüber jeglicher Opposition und jedem Widerstand.

Erstmals fand in diesem Januar auch eine Gedenkveranstaltung in der UNO in New York statt, damit diese Erinnerung von nun an zum Erbe der Menschheit zähle.

Heute, hier in Weimar, gedenkt man der Befreiung von Buchenwald. So schließt sich in gewisser Weise dieser Zyklus des tätigen Gedächtnisses, das die Augen nicht nur auf die Vergangenheit zurückwirft, sondern auch den Anspruch erhebt, in die Zukunft zu blicken.

Eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zukunft eines vereinten Europas, besser gesagt, des wiedervereinten Europas einen Weg zu bahnen, besteht darin, unsere Vergangenheit miteinander zu teilen, unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen.

Der kürzlich erfolgte Beitritt von zehn neuen Ländern aus Mittel- und Osteuropa – dem anderen Europa, das im sowjetischen Totalitarismus gefangen war – kann kulturell und existentiell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden.

Hoffen wir, dass bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die Erfahrung des Gulag in unser kollektives europäisches Gedächtnis eingegliedert worden ist. Hoffen wir, dass neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész oder David Rousset auch die "Erzählungen aus Kolyma“ von Warlam Schalarnov gerückt wurden.

Das würde zum einen bedeuten, dass wir nicht länger halbseitig gelähmt wären, zum anderen aber, dass Russland einen entscheidenden Schritt auf dem Weg in die Demokratisierung getan hätte.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.