Rede von Bundeskanzler Gerhard
Schröder
am 10. April 2005 im Weimarer Nationaltheater anlässlich der
zentralen Gedenkveranstaltung aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung der
nationalsozialistischen Konzentrationslager
Sehr verehrte, liebe
ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald,
verehrte Kolleginnen und Kollegen,
sehr verehrten Damen und Herren!
Viele von Ihnen sind heute aus Israel, aus den Vereinigten Staaten von Amerika
und aus den europäischen Nachbarstaaten hier nach Weimar gekommen. Sie haben
die Hölle der Konzentrationslager erlitten und haben überlebt.
Zahllose Ihrer Mithäftlinge aber, Familienangehörige, Freunde, starben in
diesen Lagern, sie fielen dem Hunger, den Krankheiten, dem sadistischen Terror
und dem systematischen Mord zum Opfer. Ihrer gedenken wir heute gemeinsam.
Sie, die Sie heute hierher gekommen sind, sind die Hüter authentischer,
unmittelbarer Erinnerung. Sie haben erlebt und erlitten, was eine bis zum Äußersten
gesteigerte Unmenschlichkeit anzurichten im Stande ist.
Ich verneige mich vor Ihnen, vor den Opfern und ihren Angehörigen.
Meine Damen und Herren, am Anfang von Sempruns großem Roman über Buchenwald
steht der Erzähler vor eben einer Buche und bewundert für einen Moment die
schlichte winterliche Schönheit des Baumes. Dann wird er von der Stimme und der
auf ihn gerichteten Waffe eines SS-Mannes in das Lagerleben zurückgerissen.
Buchenwald - ein eigentlich schönes Wort, das dennoch täuscht, denn die Namen
der Orte rufen Erinnerungen wach.
Zum einen: der Klang des Namens Weimar - ein Ort unvergleichbarer kultureller Blüte.
Weimar steht für Humanität, Aufklärung, Idealismus und - nach 1918 - für
einen demokratischen Neubeginn in Deutschland. Und zum anderen: Buchenwald auf
dem Ettersberg - vierzig Hektar Kälte und Grausamkeit, die absolute Negation
jeglicher Kultur. Der Ort steht für Unmenschlichkeit, geistige Finsternis,
Barbarei.
Es ist das räumliche Nebeneinander von Kultur und Barbarei, das uns so
sprachlos macht. Wir möchten vor diesem Hintergrund das Unfassbare begreifen,
das doch jede menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Um zu verstehen, sind
wir auf die Erinnerungen der Überlebenden angewiesen. Sie sind unsere
Verbindung zu eben dieser Vergangenheit.
Der Tod der Millionen, das Leid der Überlebenden, die Qualen der Opfer - sie
begründen unseren Auftrag, eine bessere Zukunft zu schaffen. Vergangenheit können
wir weder ungeschehen machen noch wirklich bewältigen. Aber aus der Geschichte,
aus der Zeit der tiefsten Schande unseres Landes, können wir wohl lernen:
Wir, die Nachgeborenen, die Vertreter eines anderen, eines demokratischen
Deutschlands, wir wollen und wir werden nicht zulassen, dass Unrecht und Gewalt,
dass Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in unserem Land jemals
wieder eine Chance bekommen.
Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus, an Krieg, Völkermord und
Verbrechen ist Teil unserer nationalen Identität geworden. Daraus folgt eine
bleibende moralische und politische Verpflichtung.
Uns leiten die Werte der Aufklärung und der französischen Revolution, die
Tradition des Humanismus, die Idee einer freien und sozial gerechten
Gesellschaft, aber auch die Erfahrung des Widerstandes gegen jede Form der
Tyrannei. Diese Werte müssen und werden wir jeden Tag aufs Neue verteidigen.
Deshalb, so denke ich, ist es gut, dass junge Erwachsene aus verschiedenen europäischen
Staaten heute hier sind. Sie treffen Zeitzeugen, sie sprechen mit ehemaligen Häftlingen,
und sie helfen so mit, deren Erinnerungen für zukünftige Generationen zu
bewahren.
Aber die Erinnerung hat die Eigenheit, mit der Zeit zu verblassen, kraftlos zu
werden, gelegentlich fern dem heutigen Leben zu erscheinen. Weil das so ist,
sind die Orte so wichtig, die sich ganz der Erinnerung widmen und die
Vergangenheit überzeugend in unsere Gegenwart holen. Diese Orte mahnen uns, der
Versuchung zum Vergessen oder zum Verdrängen entschieden zu widerstehen.
Verehrte Anwesende, das Konzentrationslager war, wie Eugen Kogon geschrieben
hat, eine Ordnung ohne Recht, in die der Einzelne hineingeworfen wurde,
gezwungen, jeden Tag um ein Leben zu kämpfen, das seinen Bewachern nichts
bedeutete. Die Allgegenwart von Terror und Tod, Willkür, Misshandlung und Demütigung
hatte zum Ziel, dem Einzelnen seine eigene Persönlichkeit, seine Selbstachtung,
ja seine Würde zu nehmen. Aber es gab unter den Gefangenen Solidarität, die
Behauptung von Humanität, den Willen zu Mitgefühl und Opferbereitschaft.
In gewissen Grenzen hat das tägliche Widerstehen, hat der Zusammenhalt von Häftlingen
aus ganz Europa dem Vernichtungswillen in den Lagern entgegen gearbeitet. Spätestens
seit Stalingrad wuchs die Zuversicht, dass Hitler den Krieg verlieren würde.
Mit welcher Begierde, mit welcher Hoffnung jedes Gerücht vom Kriegsgeschehen,
vom stetigen Vormarsch der Alliierten in den Lagern aufgenommen wurde, kann man
sich kaum vorstellen.
Als am 11. April 1945 die US-Armee das Lager Buchenwald erreichte, war es eine
Befreiung von außen sowie zugleich - und das darf eben nicht vergessen werden -
eine Befreiung von innen und auch viel politischer Aufbruch. So verfasste der
Staatsrechtler Hermann Louis Brill zusammen mit Gleichgesinnten aus ganz Europa
ein, wie er es nannte, "Manifest der demokratischen Sozialisten des
ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald." Das "Manifest"
und in gleicher Weise der "Schwur der Häftlinge von Buchenwald"
weisen in die Zukunft. Sie beschworen eine Ordnung des Friedens und einen neuen
europäischen Geist in Freiheit.
Ehemalige Gefangene, Politiker wie Brill oder der große französische Sozialist
Léon Blum, wirkten an diesen ersten Schritten in ein freiheitliches
Nachkriegs-Europa mit. Dies taten auch Schriftsteller, Journalisten und Künstler.
Lassen Sie mich, stellvertretend für viele andere, die Nobelpreisträger Elie
Wiesel und Imre Kertesz, die Schriftsteller Bruno Apitz und Danuta
Brzosko-Medryk sowie den Künstler Jósef Szajna nennen.
Wir verdanken ihnen, aber auch allen anderen, mehr, als wir mit Worten im Stande
sind auszudrücken. Sie haben großen Anteil daran, dass Totalitarismus und
Menschenverachtung, für die die Konzentrationslager Inbegriff waren, eben nicht
dem Vergessen ausgeliefert wurden.
Verehrte Anwesende, meine Damen und Herren, Buchenwald mit all seinen Schrecken
steht für das Unrechtsregime des 20. Jahrhunderts: für den Nationalsozialismus
und seine Opfer.
Es hat aber auch eine zweite, weniger bekannte Geschichte - eine Geschichte des
Stalinismus, die nicht vergessen werden darf. Aus dem KZ Buchenwald wurde bis
1950 das sowjetische Speziallager Nr. 2. 1958 wurde das ehemalige
Konzentrationslager zur "Nationalen Mahn- und Gedenkstätte
Buchenwald" der DDR erklärt. Die erste frei gewählte Volkskammer hat dann
Buchenwald als Ort des nationalen Gedenkens in den Einigungsvertrag eingebracht.
Meine Damen und Herren, das Europa der Freiheit, des Friedens und der
Demokratie, das wir in den vergangenen fünfzig Jahren aufgebaut haben, hat
gewiss viele Wurzeln. Aber die tiefste Wurzel reicht zurück in die dunkelsten
Jahre des 20. Jahrhunderts, in die Jahre, als der stumme Terror der Lager sich
über eben dieses Europa legte. In diesen Lagern entstand die tiefe
Entschlossenheit, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Aus diesen Lagern
stammt die eindringlichste Mahnung, sich den Kräften des Unrechts und der
Tyrannei in jeglicher Form entgegenzustellen.
Der langjährige Präsident des Internationalen Buchenwald-Komitees, Pierre
Durand, sagte zum 56. Jahrestag der Befreiung von Buchenwald: "Unser langes
Leben hat uns gelehrt, dass man nie aufgeben darf, dass man im Herzen die Flamme
der Hoffnung und den Willen bewahren muss, eine bessere Welt aufzubauen, eine
Welt, die der Menschheit würdig ist."
Das, meine Damen und Herren, ist der Auftrag, unter dem wir, die Nachgeborenen,
stehen. Das ist unsere Verpflichtung gegenüber denjenigen, die in Buchenwald
und in anderen Lagern gelitten haben und gestorben sind.
Dieser Auftrag gilt über Generationen hinweg. Er galt für die, die vor uns
Verantwortung trugen. Er gilt für uns, und er wird für die gelten, die nach
uns kommen. In Deutschland wird dieser Auftrag immer gelten. - Ich danke Ihnen.