Rede von Romani Rose
dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma am 10.
April 2005 im Weimarer Nationaltheater anlässlich der zentralen
Gedenkveranstaltung aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung der
nationalsozialistischen Konzentrationslager
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Meine sehr
geehrten Damen und Herren,
„Holocaust“ – dies steht auch für die vom NS-Staat systematisch
ins Werk gesetzte Ermordung einer halben Million Sinti und Roma. Es gibt in
Deutschland und den ehemals besetzten Staaten Europas unter uns Sinti und Roma
kaum eine Familie, die in dieser Zeit keine Opfer zu beklagen hätte.
Dass ein großer Teil der Opfer Kinder und Jugendliche waren, ist der wohl
eindringlichste Beleg für den totalen Vernichtungswillen gegenüber unserer
Minderheit. Sogar Sinti und Roma in Kinderheimen oder in Adoptivfamilien wurden
bürokratisch erfasst und in die Todeslager deportiert.
Erster Höhepunkt der systematischen Entrechtung unserer Minderheit waren die
„Nürnberger Gesetze“. Hierzu verfügte Reichsinnenminister Frick am 2.
Januar 1936: „Zu den artfremden Rassen gehören in Europa außer den Juden
regelmäßig nur die Zigeuner.“ Und Heinrich Himmler sprach bereits in
seinem grundlegenden Erlass vom 8. Dezember 1938 von der Notwendigkeit einer „endgültigen
Lösung der Zigeunerfrage“.
Dieser Wille zur Ausgrenzung und schließlich Deportation der Sinti und Roma
wurde mit Unterstützung des gesamten Staatsapparates planmäßig verfolgt. Mit
dem Ziel der totalen Erfassung der Minderheit wurde 1936 in Berlin die so
genannte „Rassenhygienische Forschungsstelle“ eingerichtet.
Bis zum Zusammenbruch des NS-Regimes setzten die dort tätigen Rassenforscher in
Zusammenarbeit mit dem Reichssicherheitshauptamt, den Parteistellen und anderen
staatlichen Behörden alles daran, auch noch den letzten Angehörigen unserer
Minderheit aufzuspüren.
Wie weitreichend dieses Vernichtungsziel war, zeigt die Tatsache, dass selbst
ein so genannter „Achtelzigeuner“ – so die menschenverachtende
Sprache der Nationalsozialisten – als „rassisch minderwertig“
eingestuft wurde und dem staatlich organisierten Mordprogramm zugeführt werden
sollte.
Namen wie Auschwitz, Majdanek und Kulmhof, wie Bergen-Belsen, Buchenwald,
Dachau, Ravensbrück und Sachsenhausen haben sich unauslöschlich in das
kollektive Gedächtnis unserer Minderheit eingebrannt.
Diese zentralen Stätten der Verbrechen stehen ebenso für den
nationalsozialistischen Völkermord an unserer Minderheit wie die unzähligen
Orte im besetzten Europa, an denen unsere Menschen in namenlosen Massengräbern
verscharrt wurden. Sie wurden zu Opfern des systematischen Massenmords der
SS-Einsatzgruppen hinter der Ostfront.
Bestandteil der Vernichtung war auch die völlige Ausbeutung der Menschen.
Hierzu hielt Reichsjustizminister Thierack im Protokoll zu seinem Gespräch mit
Goebbels am 14. September 1942 fest: „...dass Juden und Zigeuner
schlechthin... vernichtet werden sollen. Der Gedanke der Vernichtung durch
Arbeit sei der beste.“
Vor ihrer endgültigen Ermordung wurden Sinti- und Roma-Häftlinge deshalb als
Sklavenarbeiter für die deutsche Rüstungsindustrie eingesetzt, wo sie sich
buchstäblich zu Tode arbeiten mussten.
Unsere Gedanken sind heute bei allen Opfern der NS-Verbrechen. Zugleich
verneigen wir uns vor den Überlebenden und denen, die damals Widerstand
leisteten. Wir danken den ehemaligen alliierten Soldaten, die Europa unter
Einsatz ihres Lebens von der nationalsozialistischen Diktatur befreit haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in dem Bemühen, nach dem Holocaust die
Normalität des Zusammenlebens zwischen der Mehrheitsbevölkerung und den Angehörigen
unserer Minderheit zurückzugewinnen, stehen Staat und Politik in einer
besonderen historischen Verantwortung.
Unsere Menschen haben erlebt, dass sie vor aller Augen ausgesondert und
entrechtet wurden. Ihre Nachbarn, Freunde und Arbeitskollegen haben weggeschaut,
als die seit Jahrhunderten in Deutschland beheimateten Angehörigen unserer
Minderheit nach dem Machtantritt der Nazis diffamiert, ausgegrenzt, deportiert
und schließlich ermordet wurden.
Diese einschneidende Erfahrung prägt bis heute auch die nachfolgenden
Generationen. Deshalb muss die Politik des demokratischen Rechtsstaats immer
wieder sichtbar machen, dass Sinti und Roma ein gleichberechtigter Teil dieser
Gesellschaft sind.
Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist das geplante Holocaust-Denkmal für die
ermordeten Sinti und Roma in Berlin. Es gibt ein überwältigendes Votum unserer
Überlebenden und der internationalen Roma-Organisationen, dass ein Zitat des früheren
Bundespräsidenten Roman Herzog Inschrift des Denkmals werden soll. Dieser sagte
in seiner historisch bedeutsamen Rede am 16. März 1997: „Der Völkermord
an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem
gleichen Vorsatz und dem gleichen Willen zur planmäßigen und endgültigen
Vernichtung durchgeführt worden wie der an den Juden. Sie wurden im gesamten
Einflussbereich der Nationalsozialisten systematisch und familienweise vom
Kleinkind bis zum Greis ermordet.“
Diese Aussage darf nicht in Frage gestellt oder relativiert werden.
Ich danke Ihnen.