Rede von Bertrand Herz
dem Präsidenten des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und
Kommandos am 10. April 2005 im Weimarer Nationaltheater anlässlich der
zentralen Gedenkveranstaltung aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung der
nationalsozialistischen Konzentrationslager
Liebe
Freunde, liebe Familien der Vertriebenen, der Häftlinge, liebe Kameraden,
sechzig Jahre nach der Befreiung der Lager sind wir, die Überlebenden der
Verbrechen des Naziregimes, froh, dass unser Leiden und unser Kampf, das Leiden
und der Kampf unserer, der Barbarei zum Opfer gefallenen Kameraden, vor denen
wir uns im Gedenken verneigen, heute offiziell durch die Bundesrepublik
Deutschland und den Freistaat Thüringen geehrt werden.
Zu den Überlebenden gehört auch jener fünfzehnjährige junge Franzose, der am
11. April 1945 erschöpft durch das Lager Buchenwald irrt, dessen Vater und
Mutter durch die Nazis zu Tode kamen, und der sechzig Jahre später an dieser
Stelle die Vertreter eines demokratischen und freundschaftlichen Deutschland
tief bewegt grüßt.
Diese Begegnung verdanken wir ohne Frage denen, die nach den grauenhaften
Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs Versöhnung zwischen den Völkern Europas
stiften wollten. Das Europa jedoch, das aus den Ruinen des entsetzlichen
Naziregimes hervorgegangen ist, wird nicht überleben können, wenn diese
Vergangenheit vergessen wird.
Vergessen bedeutet, nicht verstehen zu wollen, wie leicht eine auf Aggression,
auf Vernichtung der als minderwertig bezeichneten Rassen und auf Missachtung des
Gewissens des Einzelnen ausgerichtete Ideologie entstehen und zu einer Gefahr für
unsere gesamte Zivilisation werden konnte. Vergessen bedeutet, nicht einsehen zu
wollen, dass Krieg und die Verletzung der Würde des Menschen in unserer Zeit
das Unsägliche erneut möglich machen können. Dazu gehört auch blinder
Terrorismus.
Wie können wir, die Überlebenden der Lager, unter denen viele gegen die
nazistische Ideologie der Nazis gekämpft haben, wo so viele Kameraden Opfer
geworden sind, wie können wir hinnehmen, dass wieder arrogant der Hass
aufkommt, den wir für ewig verschwunden dachten? Hass gegen Ausländer, gegen
Sinti und Roma, gegen Juden, gegen andere Gemeinschaften.
Wir, die Überlebenden, werden irgendwann nicht mehr sein. Wir müssen mit der
Unterstützung der politisch Verantwortlichen die Erinnerung, das Gedenken an
das, was wir überlebt haben, von den Erziehern auf die Jugend übertragen. Die
Überlegung, die wir aus der Vergangenheit ziehen, die Erkenntnisse aus dieser
Vergangenheit, insbesondere der Nazismus, diese Erinnerung, dieses Gedenken ist
unbedingt notwendig, damit die jungen Menschen Bürger eines freien und
friedlichen Europas werden. Allen jungen Menschen sagen wir, dass sie im täglichen
Leben jede Form von Ausgrenzung auf Grund der Nationalität, der Herkunft, der
Religion bekämpfen müssen. Seien wir auf der Hut: Ausgrenzung beginnt mit dem
Spott, dann kommen Beleidigungen, dann Schläge und schließlich kann sie
angesichts der Gleichgültigkeit aller zu Mord und sogar zu Vernichtung führen.
Nein, ein junger Mensch darf das niemals tolerieren. Nein, jeder Kamerad ist ein
Bruder, oder eine Schwester, wie es die jungen Menschen begriffen haben, die in
den von den Nazis besetzten Ländern, trotz aller Gefahr den Davidstern als
Zeichen der Solidarität mit ihren gedemütigten Kameraden trugen.
Wir möchten den jungen Menschen auch sagen, dass man für die Demokratie
eintreten und an die damals Gleichaltrigen denken muss, die Nein zum Nazismus
sagten. So wie jene französischen Frauen, die die Marseillaise sangen, als sie
nach Auschwitz kamen und von denen wenige nur zurückkehrten. So wie jene
sowjetischen Häftlinge, die wie Kameraden anderer Nationen in Dora Kriegswaffen
sabotierten und erhängt wurden. Und schließlich so wie jene deutschen
antifaschistischen Widerstandskämpfer, die schon 1933 den Nazismus bekämpften
und durch deren Mut der bewaffnete Widerstand aller Nationen in Buchenwald durch
das Internationale Lagerkomitee ermöglicht wurde. Widerstand, der am 11. April
1945, als die amerikanischen Truppen schon fast eingetroffen waren, ausbrach und
das Lager befreite.
In der Erinnerung an diesen Kampf und weil Sie, die Jugend, in der tragischen
Zeit, die die Welt heute erlebt, wachsam sein müssen, fordern wir Sie auf, demnächst
auf dem Appelplatz, erneut den Schwur vom 19. April 1945 zu tun, mit dem die
befreiten Häftlinge gelobten, eine Welt des Friedens schaffen zu wollen, von
der wir heute, sechzig Jahre später, leider noch weit entfernt sind.
Sie, die Jugend, sind jedoch nicht nur Bewahrer unseres Vermächtnisses, Sie
sind auch unsere Hoffnung, damit durch Sie jene Welt des Friedens entsteht, jene
Welt, die wir so sehr wünschten – auf den Baustellen, in den Tunneln, den
Kommandos, unter den Schlägen, in der Kälte, im Gestank der Latrinen des
kleinen Lagers, als wir das Lied der "Moorsoldaten" anstimmten und
sangen: „Einmal werden froh wir sagen, Heimat, Du bist wieder mein.“