Rede des Thüringer Ministerpräsidenten
Dieter Althaus
am 10. April 2005 im Weimarer Nationaltheater anlässlich der
zentralen Gedenkveranstaltung aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung der
nationalsozialistischen Konzentrationslager
Sehr geehrter Herr
Bundeskanzler Schröder, Herr Bundesratspräsident, sehr geehrter Herr Französischer
Forschungsminister, lieber François d’Aubert, lieber Herr Herz als Präsident
des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos, begrüße ich Sie
besonders herzlich. Herr Spiegel, Präsident des Zentralrats der Juden in
Deutschland, Herr Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma,
meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen.
Vor allem begrüße ich alle diejenigen unter Ihnen, die Buchenwald überlebt
haben. Ich freue mich, dass Sie heute bei uns sind! Und ich freue mich
besonders, dass Sie, lieber Jorge Semprún, heute zu uns sprechen werden!
Ich hätte gern auch Imre Kertész begrüßt, doch leider konnte er aus
gesundheitlichen Gründen nicht kommen. Ich denke, ich spreche in Ihrer aller
Namen, wenn ich ihm von hier aus herzliche Genesungswünsche übermittle.
Ein sehr herzliches Willkommen auch den Veteranen der US-Armee. Sie haben dem
Grauen vor 60 Jahren ein Ende bereitet.
Wir gedenken, wir erinnern und wir lernen, weil wir Verantwortung tragen. Wir
erinnern uns und andere daran, was war, weil wir es nicht vergessen dürfen.
Denn wenn wir es vergessen, riskieren wir, dass es sich wiederholt. Nicht heute
oder morgen. Aber vielleicht übermorgen.
Diese Gedenkfeier ist eine der letzten Gelegenheiten, sich gemeinsam mit Überlebenden
der Konzentrationslager gegen das Vergessen zu wenden. 60 Jahre nach dem Ende
des Zweiten Weltkriegs gibt es nur noch wenige Zeitzeugen, die – wie Jorge
Semprún – aus eigenen leidvollen Erfahrungen berichten können, wie es war;
in einer Stadt, die wie kaum eine andere die Höhen und Tiefen deutscher
Geschichte widerspiegelt, die – Jorge Semprún hat es gesagt – durch eine „unheimliche
Nähe zwischen moderner Barbarei und klassischer Kultur“ gekennzeichnet
ist.
Was müssen wir tun, damit das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus,
damit das Erinnern an die Barbarei nicht zu einem Ritual erstarrt? Was müssen
wir tun, damit für immer unmenschliche Geister wie jene chancenlos bleiben?
Ich stelle diese Fragen, weil ich davon überzeugt bin: Ein ritualisierter
Antifaschismus, wie er in der DDR praktiziert wurde, hilft uns nicht weiter. Im
Gegenteil: Er hat die Menschen, wie wir inzwischen wissen, eben nicht
selbstverständlich gegen rechtsextremistische Parolen immun gemacht.
Nein, wir brauchen nachhaltigere Formen der Erinnerung an das Unfaßbare. Wir müssen
uns mehr Mühe geben, als immer nur „Nie wieder!“ zu sagen.
Wir müssen uns und den kommenden Generationen menschenverachtende Ideologien
und die entsetzlichen Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns vor Augen führen,
wir müssen uns auch mit dem Warum auseinandersetzen: Warum konnte es dazu
kommen?
Nationalsozialismus, Rassenwahn und Judenverfolgung sind keineswegs aus dem
Nichts entstanden. Das furchtbare Verdikt „Die Juden sind unser Unglück!“
ist älter als der Nationalsozialismus.
Es gab nicht nur Hitler, Goebbels und Himmler, sondern eine ganze Reihe
geistiger Wegbereiter. Und es gab – schon lange vor dem Dritten Reich –
extremistisches, antisemitisches Gedankengut.
Ich räume ein: Die Auseinandersetzung mit dieser komplexen Geschichte ist
schwierig. Aber wir dürfen sie weder uns noch unseren Kindern ersparen. Und es
ist nicht nur eine Aufgabe der Schule, junge Leute damit zu konfrontieren.
Die dunkelsten Kapitel unserer Geschichte dürfen sich nicht wiederholen,
deshalb müssen wir hinsehen, wenn neue braune Verführer am Werk sind. Auch
wenn Neonazis ihr Auftreten verändern, bleiben sie Neonazis.
Die jüngsten Wahlerfolge rechtsextremistischer Parteien zeigen, dass die
Menschen auch heute nicht vor Verführungen gefeit sind – oder sie wollen
extrem provozieren, aber um welchen Preis? Dennoch gibt es keinen Grund zum
Pessimismus. Die freiheitliche Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland ist
stärker als die Weimarer Republik. Und wir können und wir werden alles dafür
tun, dass das auch in Zukunft so bleibt!
Bei der Verleihung der Goethe-Medaillien vor drei Wochen hier in Weimar sagte
Professor Heinrich Detering in seiner Laudatio für Ruth Klüger: „Was wir
von ihr zu lernen haben, im Deutschland des Jahres 2005, das ist die Kunst,
unsere Gespenster zu ködern – auf Gedeih und Verderb, auf Spitz und Knopf,
auf Teufel komm heraus.“
Denn für Ruth Klüger, die Auschwitz überlebt hat und als Germanistin in den
USA lebt, steht fest: „Um mit Gespenstern umzugehen, muss man sie ködern,
ihnen Reibflächen hinhalten, um sie aus ihrem Ruhezustand herauszureizen und
sie in Bewegung zu bringen.“
Das klingt gewagt. Und doch ist es tausend Mal besser, den Streit zu suchen und
die Gespenster zu besiegen, als sie zu ignorieren und im Dunkeln ihr Unwesen
treiben zu lassen.
Es liegt in unserer Verantwortung, wachsam zu bleiben – gegenüber jeder Form
von Extremismus und Totalitarismus, gegenüber jeder Form von Intoleranz und
Fremdenhass.
„O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen, weil du mein Schicksal
bist“, heißt es im Refrain des „Buchenwald-Liedes“.
Wir wollen nicht vergessen, dass Buchenwald den Lebensweg von rund einer
Viertelmillion Menschen aus allen europäischen Ländern auf grausame Weise
mitgeprägt hat und bei den Überlebenden noch heute prägt. Die Opfer traf ein
unverschuldetes Schicksal, aber kein Schicksal im Sinne einer Naturkatastrophe.
Es war ein von Menschen gewolltes, bewußt geplantes und durchgeführtes
Verbrechen!
Es hätte auch die Möglichkeit gegeben, Auschwitz, Buchenwald und
Mittelbau-Dora zu verhindern – rechtzeitig!
Und weil das so ist, sollten wir heute unsere Freiheit nutzen, um bereits den
Anfängen zu wehren. Das bleibt unsere Verpflichtung – und auch der Auftrag
der nachfolgenden Generationen!